24.01.2023
Trichotillomanie: Was hinter krankenhaftem Haare-Reißen steckt und wie Friseure helfen können
Menschen, die unter Trichotillomanie leiden, reißen sich zwanghaft ihre Haare aus. Wie Friseur*innen helfen können, untersucht eine aktuelle wissenschaftliche Studie.
Es ist ein wunderbares Gefühl, wenn man Kund*innen vor sich hat und mit den Fingern durch deren Haare fährt, sie bewegt und ihre Struktur fühlt. Für manche Menschen ist dieses Gefühl beim Befühlen ihrer eigenen Haare jedoch zwanghaft belegt. Sie gehören zu den etwa ein bis zwei Prozent in Deutschland, die von der Zwangsstörung Trichotillomanie betroffen sind: Sie fühlen nicht nur die Bewegung und Beschaffenheit eines ihrer Haare, sondern separieren und rupfen es aus. Nicht vereinzelt und nicht zufällig, sondern gezielt und vor allem immer wieder und in hoher Zahl. Dabei zupfen oder reißen die Betroffenen sowohl Kopfhaare als auch Wimpern oder Augenbrauen oder sogar Scham- und Achselhaare aus. Die sichtbaren Folgen wie kahle Stellen am Kopf oder fehlende Augenbrauen und Wimpern belasten die Betroffenen stark.
Haarschnitt als Hilfsangebot
Ein Friseurbesuch ist deshalb für viele jahrelang unvorstellbar. Stattdessen verbergen sie die kahlen Stellen mit Tüchern, Mützen oder oft unprofessionellen Haarteilen und zeichnen Augenbrauen mit dekorativer Kosmetik nach.
Abhilfe kann fast immer nur eine Verhaltenstherapie schaffen, mit der die Betrof fenen den häufig zugrunde liegenden Leistungsdruck mindern und die gestörte Impulskontrolle verbessern können. Doch auch ein achtsam ausgeführter Haarschnitt und eine liebevolle Haarwäsche und -behandlung können einen positiven Effekt auf das Wohlbefinden der Betroffenen haben, ist sich Friseurin und Diplom- Psychologin Linda Hollatz sicher.
Sie promoviert zu diesem Thema an der Universität zu Köln. Mithilfe zweier Studien möchte sie die Zwangsstörung Trichotillomanie bekannter machen und zur Rolle, die Friseur*innen beim Umgang mit der Störung spielen können, informieren: „Wir hoffen, dass wir mithilfe der Ergebnisse ein besseres Verständnis für spezifische persönliche und professionelle Haarpflege-Bedürfnisse von Betroffenen gewinnen können. Ein nächster Schritt wäre dann die Entwicklung von Haarpflege-Interventionen, die Menschen beim Umgang mit ihrem Haareziehen unterstützen können.“
Zur Aufklärung beitragen
In der ersten Studie werden Betroffene online zu ihrem Haarpflege-Verhalten befragt und auch dazu, ob sie sich von anderen Menschen berühren lassen oder sich überhaupt in einen Salon trauen. „Für die zweite, experimentelle Studie habe ich einen auf Achtsamkeit basierten Haartermin entwickelt. Dafür schule ich die teilnehmenden Friseur*innen und bringe sie und Betroffene zu einem Termin zusammen. Dieser gewährleistet den Betroffenen vor allem Privatsphäre und das Wissen, dass die Friseur*in mit der Erkrankung vertraut ist und es keiner Erklärung ihrerseits bedarf.“
Das Ziel der Studie ist, anhand der speziell entworfenen Behandlungstermine herauszufinden, welche Erfahrungen Betroffene mit diesem Termin machen, und ob diese Maßnahme einen Effekt auf das Haarzieh-Verhalten und das Selbstwertgefühl hat. Das Haarzieh-Verhalten sowie das Selbstwertgefühl der Betroffenen werden vor und bis zu 60 Tage nach dem Termin gemessen. An der Studie teilnehmende Friseur*innen werden mit einem virtuellen Training auf den Termin vorbereitet. In dem Training informiert Linda Hollatz in acht Modulen über die Erkrankung, Kommunikation mit Betroffenen, Achtsamkeit und Haarschneide-Techniken.
Schulung für Friseur*innen
Drei Schulungsrunden für Frisuer*innen zum so genannten „Achtsamkeitsbasierten Haarschnitt“ sind bereits abgeschlossen. In diesem Frühjahr sollen weitere stattfinden, so Linda Hollatz.
Die von ihr entwickelte Behandlung, die sie in den Schulungen zur Studie vermittelt, basiert auf drei grundlegenden Faktoren: Privatsphäre, Vorwissen der Friseur*innen und ausreichend Zeit. „Ich möchte zeigen, dass es Betroffenen durchaus helfen kann, mit ihrer Zwangsstörung besser umgehen zu können, wenn sie eine Behandlung erhalten, die liebevoll und achtsam erfolgt. Diese Erfahrung habe ich selbst gemacht und möchte dies nun auch wissenschaftlich belegen“, so Linda Hollatz. „Insgesamt rund 60 teilnehmende Friseur*innen, die ich mit Betroffenen zusammenbringen kann, wären ideal.“
Bisher haben knapp 20 Friseur*innen teilgenommen und auch Betroffene nach dem „Achtsamkeitsbasierten Haarschnitt“ behandelt. Dazu gehört auch Friseurmeisterin und Naturfriseurin Jennifer Lohmer aus Bonn. Sie berichtet: „Im Unterschied zu einer normalen Behandlung ist vor allem eine passive Rolle und Zurückhaltung durch die Friseur*innen wichtig. Die Befindlichkeit der Kundin steht im Mittelpunkt und nicht so sehr ein trendiger Haarschnitt. Möchte die Kundin eine Beratung zum Haarschnitt oder zu möglichen Behandlung von kahlen Stellen oder nicht, möchte sie allgemein kommunizieren oder lieber ohne weitere Kommunikation behandelt werden – all dies klärt man voraher achtsam ab. Wichtig finde ich vor allem eine professionelle und gleichzeitig verständnisvolle Haltung. Darauf hat uns Linda in der Schulung vorbereitet. In der konkreten Behandlung war dies dann sehr gut umsetzbar.“
Vertrauen und Sicherheit
Friseurmeister Peter Fischer aus Kassel hat das Training ebenfalls bereits absolviert, allerdings noch keinen Behandlungstermin im Rahmen der Studie. Er arbeitet jedoch schon seit 2007 als Naturfriseur und stellt bei seinen Terminen Achtsamkeit grundsätzlich in den Vordergrund. „Zeit, Raum, Ruhe und Kommunikation sind für uns immer wichtige Faktoren bei unseren Terminen“, betont er. „Ich möchte unseren Kundinnen die Sicherheit geben, dass sie gesehen und gehört werden, egal mit welchen (Haar-)Problemen sie zu uns kommen. Die Behandlung von Trichotillomanie-Betroffenen war zwar in der Symptomatik für mich neu, nicht aber ein achtsamer Umgang mit den Menschen. Dass wir Friseure auch bei solchen Themen professionell und aufgeklärt handeln, finde ich außerordentlich wichtig. Aufklärung ist immer das A und O. Die Kundin muss wissen: Hier werde ich ernst genommen, hier kann ich vertrauen, hier wird meine Not anerkannt.“
Aufklärung unter Friseur*innen ist Linda Hollatz ein weiteres Anliegen der Studie: „Je mehr Salons von der Erkrankung wissen und dementsprechend professionell damit umgehen, desto besser für Betroffene. Sich oft nach vielen Jahren wieder zum Friseur zu trauen, ist schon eine riesige Überwindung. Wenn man sich dann dort sogar wohl fühlen kann sowie einen verständnisvollen und wissenden Ansprechpartner vorfindet, kann das helfen, wieder ein positives Gefühl zum Umgang mit den eigenen Haaren zu entwickeln.“
Wer sich für eine Teilnahme an der Studie interessiert und mehr über Trichotillomanie wissen möchte, kann sich bei Linda Hollatz unter research@lindahollatz.de oder T: (040) 52 57 0022 melden.
INFO: WAS IST TRICHOTILLOMANIE?
Trichotillomanie ist eine Zwangsspektrums-Störung, bei der sich Betroffene selbst Haare ausreißen. Sie können das Verhalten nicht unterbinden, obwohl sie sehr unter dem Haareausreißen und seinen Folgen leiden. Am häufigsten werden die Haare an der Kopfhaut sowie Augenbrauen und Wimpern ausgerissen. Generell können aber alle Körperstellen betroffen sein, wo Haare wachsen. Das Ausreißen von Haaren wird als ablenkend, tröstend oder spannungsmindernd empfunden, wodurch sich das Verhalten verfestigt. Auch das Ausüben der Handlung als Genussverhalten kann eine Rolle spielen: Oft wird das Spielen mit dem Haar zwischen den Fingern, das Berühren des Mundes mit dem Haar oder das Beißen auf den Haaren einfach als angenehm empfunden. Die Handlung wird zu einem Alltagsritual, beispielsweise beim Autofahren, Lesen oder Telefonieren. Sie kann dann unbewusst und automatisiert ablaufen, ohne konkrete Auslöser.
Tipps zum Umgang mit Trichotillomanie-Betroffenen
Antonia Peters, selbst jahrelang von Trichotillomanie betroffen und inzwischen Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V., kennt die Bedürfnisse von Trichotillomanie-Patienten bei einem Friseurbesuch: „Das Schamgefühl ist extrem groß. Betroffene gehen oft jahrelang überhaupt nicht zum Friseur, schneiden sich die Haare selbst, klammern und frisieren sie so, dass kahle Stellen überdeckt werden. Oder sie nennen beim Friseurbesuch andere Gründe für kahle Stellen: Hormone, Medikamente, Ernährung, Allergien, Stoffwechsel etc.
Entdecken Sie als Friseur eine diffus kahle Stelle mit vielen gleich kurzen Stoppeln, könnte es sich um Trichotillomanie handeln. Ein mögliches Vorgehen wäre dann, die Kundin behutsam, feinfühlig und wertfrei anzusprechen: „Ich sehe, Sie haben hier eine dünne oder kahle Stelle. Möchten Sie dazu beraten werden? Könnte es denn auch sein, dass es nicht an Grund XYZ liegt, sondern dass Sie dort vielleicht selbst Haare ausgezupft haben? Ich habe dazu schon einiges gelesen/ich kenne das Thema. Möchten Sie darüber sprechen oder darf ich Sie dazu beraten?“
Vermitteln Sie der Kundin Professionalität, Verständnis und Sachkenntnis. Bieten Sie ihr an, sie in einem separaten Bereich – falls vorhanden – oder zu einem Randtermin zu behandeln. In solchen Situationen öffnen sich Betroffene gegebenenfalls eher und können unbelasteter Frisierwünsche äußern.
Während der Behandlung können Sie immer wieder dezent nachfragen, ob gewisse Berührungen gewünscht sind, beispielsweise das Waschen oder Bürsten. Vermeiden Sie es, beim Haarschnitt zu stark am Haar zu ziehen. Schaffen Sie positive Anker, indem Sie z. B. ganz wertfrei ein leichtes Tages Make-up anbieten. Bauen Sie Vertrauen auf, indem Sie sich zurücknehmen.“
INFOS UND HILFSANGEBOTE
Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V.:
Antonia Peters, Vorsitzende der DGZ e. V., ist eine ehemalig Betrof fene und Trichotillomanie-Expertin mit einer regelmäßigen Telefonsprechstunde (kostenfrei und überregional): www.zwaenge.deHamburger Selbsthilfegruppe Skinpicking / Dermatillomanie – Hair Pulling Disorder / Trichotillomanie und andere BFRBs: Momentan per Zoom jeden 2. und 4. Montag von 19:00–20:30 Uhr, www.selbsthilfe-bfrb.de
Selbsthilfegruppen nach PLZ:
www.zwaenge.de/selbsthilfe/shg_liste/