05.07.2020
Jeder ist wichtig!
Vor Corona überließ Bärbel Dittmann die Kunden im Salon einmal wöchentlich ihrem Mann und fuhr mit Sohn Marc ins Alten- und Pflegeheim zum Waschen, Schneiden, Färben, Legen.
Lockere Sprüche hatte Marc Dittmann immer auf Lager, wenn er dienstags um 8 Uhr im Haus der Betreuung und Pflege am Deutenberg den Salon aufschloss. Und die brauchten er und seine Mutter, um die besondere Kundschaft bei Laune und auf dem Frisierstuhl zu halten. Rund 110 Menschen sind in der Alten- und Pflegeeinrichtung: Männer und Frauen zwischen Mitte 50 bis weit in die 90er-Jahre, Menschen, die ihr Leben nicht mehr selbst bestreiten können. „Manche sind noch recht rüstig, manche mehrfach behindert, viele demenzkrank“, schildert Bärbel Dittmann die Kunden.
Gute Nerven
Da kann es schon mal passieren, „dass einer nach dem halben Haarschnitt keine Lust mehr hat und einfach geht“. Andere haben den vereinbarten Termin einfach ganz vergessen und müssen erst aus den Zimmern geholt werden. Engelsgeduld sei da gefragt und viel Verständnis für die oft verwirrten, teils hochbetagten Menschen. Doch die Dittmanns nehmen ungewöhnliche Situationen oder gar Beschimpfungen mit rheinischem Humor und einer großen Portion Pragmatismus. Sein flapsiger Satz: „So, jetzt haben Sie mal wieder einen jungen Mann im Bett“, habe kürzlich eine alte Dame unendlich amüsiert, erinnert sich Marc Dittmann. „Die konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen.“ Tatsächlich kommt der 30-Jährige manchmal nicht umhin, bei seinen bettlägerigen Kunden ins Bett zu kriechen, sie allein oder mithilfe der Pflegerin so zu stützen, dass er die vom Liegen verfilzten Haare am Hinterkopf lösen, waschen und schneiden kann. Auch sonst sind Kreativität und Flexibilität gefragt bei den zwei Friseuren, um behinderte Rollstuhlfahrer in ungünstigen Sitzpositionen so aufzurichten, dass ein Haarschnitt möglich wird, und unwillige Kunden zur Haar- oder Bartpflege zu überreden. Dennoch legt Bärbel Dittmann Wert auf Individualität.
Wünsche ernst nehmen
„Jeder kann bestimmen, wie er seine Haare haben möchte“, sagt die Friseurmeisterin. Als die 59-Jährige vor über zwei Jahrzehnten durch eine zufällige Anfrage zu dem Job im Alten- und Pflegeheim kam, galt die Devise: „Der Haarschnitt muss einfach zu pflegen sein.“ Das hat die gebürtige Dortmunderin, deren Schwiegereltern im Rheinland bereits einen Salon führten, geändert. „Ich gehe auf die Wünsche der Kunden ein, sofern das möglich ist.“ Lange Haare werden nicht einfach abgeschnitten, Farbe oder Dauerwelle gehören neben Waschen, Legen und Kurzhaarschnitten ebenfalls zum Programm. Nicht immer sei das Personal davon begeistert. „Aber auch im Altersheim möchten die Damen vernünftig aussehen, das steigert das Selbstwertgefühl“, lautet Dittmanns Erfahrung. „Für einige ist es schon so schwer genug, ins Heim zu müssen.“
Fest verankert
Bärbel und Marc Dittmann sind eine feste Größe im Alltag der Alten- und Pflegeeinrichtung. Der rollstuhlgerechte Salon mit vier Bedienplätzen, den sie sich mit einem Podologen teilen, liegt günstig direkt neben dem Speisesaal – nicht zu übersehen für die Bewohner, die dort frühstücken.
„Für viele sind wir das Highlight der Woche; eine Dame winkt immer, wenn wir kommen, und begrüßt uns lautstark“, erzählt Marc Dittmann, „wir machen es uns einfach lustig.“ Bemerkungen der Kunden wie „Machen Sie bitte schneller, ich habe nämlich einen Friseurtermin“, lassen Dittmann schmunzeln, nicht verzweifeln. Der junge Mann besuchte bereits während der Schulzeit seine Mutter regelmäßig bei ihrem Dienstags-Job, tingelte von Station zu Station, wie er selber sagt, holte Rollstuhlfahrer aus den Zimmern und brachte sie zu seiner Mutter in den Salon. Diese Arbeit während und nach der Friseurausbildung fortzusetzen, war für ihn selbstverständlich.
Den Salon im Alten- und Pflegeheim betreibt das Zweierteam seit rund 20 Jahren einmal pro Woche neben ihrem eigentlichem Geschäft: dem Salon „Haarmoden Sie und Er“ mit neun Bedienplätzen im Dorfkern von Dauchingen. Der Familienbetrieb mit Kundschaft aus dem ländlichen Umfeld ernährt Mutter, Vater und Sohn und erlaubt ihnen jede Woche den Abstecher ins Haus der Betreuung und Pflege. Dittmanns begreifen ihren Job dort auch ein wenig als Ehrenamt. Kaum jemand mache das so lange, sagt Bärbel Dittmann. Zumindest kenne sie keinen Friseur, der über zwei Jahrzehnte im Altenheim arbeite. Die um rund ein Viertel geringeren Einnahmen für die Haarpflege der Heimbewohner, die mit deutlich höherem Aufwand verbunden sind, nehmen sie dafür gerne in Kauf. „Wir können alle in die Lage kommen, in einem Heim zu leben. Dann sind wir froh über individuelle Ansprache und Pflege, die wir uns von unserem Taschengeld noch leisten können.“
Stillstand durch Corona
Momentan allerdings ruhen Schere und Föhn in Dittmanns Zweitsalon. Seit dem 4. März ist das Heim für Besucher geschlossen – und damit auch für die Friseure. Beide bedauern, ihre Kunden nicht mehr betreuen zu können, den Kontakt abrupt verloren zu haben. Einige Senioren kennen sie ja bereits viele Jahre lang. Unklar ist zudem, wann die Einrichtung für sie wieder offen ist. Auf Frisieren, Legen und Haareschneiden müssen die Bewohner dennoch nicht verzichten. Das müssten die Pflegekräfte jetzt mit übernehmen, erläutert Einrichtungsleiterin Ramona Nimtz. „Dittmanns fehlen uns dennoch sehr, weil professionelle Friseure etwas anderes sind.“ Nimtz hofft, Mutter und Sohn bald wieder im Haus zu haben. So lange müssen die Bewohner auf Sonderleistungen wie Strähnchen, Haarefärben und Dauerwelle verzichten.