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16.07.2018

Ernstfall Berufsunfähigkeit

Viele Friseure haben keine Berufsunfähigkeitsversicherung. Warum es brandaktuell ist, das Thema zu überdenken.

Als sie vom Arzt die Diagnose Brustkrebs bekam, geriet die Welt von Mandy van den Bosch-Macri aus den Fugen. Bis eben war sie doch die erfolgreiche Unternehmerin gewesen, mit großem Salon, internationaler Karriere, dazu zweifache Mutter – eine Powerfrau durch und durch. „Von einem Moment auf den anderen war ich wie aus dem Leben gerissen“, sagt die Friseurmeisterin. Es fehlte nicht viel, und sie hätte auch finanziell den Boden unter den Füßen verloren.

Die Berufsunfähigkeitsversicherung, eine private Absicherung zum sogenannten Invaliditätsschutz, ersetzt das Einkommen, wenn Unfälle, Erkrankungen und andere Leiden das Arbeiten für eine gewisse Zeit oder sogar dauerhaft unmöglich machen. Rund 14 Millionen Deutsche haben aktuell eine Berufsunfähigkeitsversicherung. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass der Großteil der 44,6 Millionen Erwerbsfähigen hierzulande notfalls auf die Erwerbsminderungsrente der gesetzlichen Rentenversicherung angewiesen wäre. Diese deckt jedoch, selbst wenn sie in vollem Umfang gewährt wird, nur rund ein Drittel des Bruttogehaltes ab, oft liegt sie unter der gesetzlichen Grundsicherung. Berufsanfänger können sogar völlig leer ausgehen, da es eine Bedingung für den Erhalt der Erwerbsminderungsrente ist, mindestens fünf Jahre in die gesetzliche Rentenkasse eingezahlt zu haben. Berufsunfähigkeit, das heißt also nicht selten: Armut.

Vorsicht statt Nachsicht

Mit Mitte dreißig, wenige Jahre vor ihrer Erkrankung, hatte Mandy van den Bosch-Macri eine private Berufsunfähigkeitsversicherung abgeschlossen. Eine Entscheidung, die ordentlich Geld gekostet und ihr das Leben ungemein erleichtert hat, wie sie betont. „Die fast 500 Euro im Monat hätte ich damals lieber anders ausgegeben“, sagt sie. Doch der Wunsch, im Ernstfall ca. 2.000 Euro monatlich zu beziehen, überwog. „Ich wollte einfach sicher sein, dass ich unseren Lebensstandard nicht verliere, wenn etwas passiert, auch für die Kinder.“ Nach der Operation folgten Therapie und Reha, die Friseurin erholte sich langsam. Dennoch fiel sie eineinhalb Jahre lang im Mannheimer Salon aus, den sie gemeinsam mit ihrem Mann betreibt. Heute ist sie 47 Jahre alt und fühlt sich fit. Zu ihrer Erholung habe nicht zuletzt beigetragen, dass sie keinen finanziellen Stress hatte: „Wenn man mit so einer Krankheit konfrontiert ist, hat man ohnehin existenzielle Sorgen, da tut es gut, sich wenigstens die Geldprobleme zu sparen.“

Statistisch scheidet fast jeder vierte Berufstätige in Deutschland vorzeitig aus dem Arbeitsleben aus. Einige Berufe sind freilich gefährlicher als andere: So enden Gerüstbauer, Dachdecker, Bergleute, Pflasterer und Fleischer in Deutschland am häufigsten in Berufsunfähigkeit. Doch wenngleich im Friseursalon eher keine körperlichen Gefahren lauern, die unmittelbar zur Arbeitsunfähigkeit führen, setzen die komplexen Belastungen vielen Friseuren langfristig zu. Der häufige Kontakt mit Wasser, der auf Dauer die Haut angreifen kann, ist da noch eines der geringeren Risiken. Vor allem die in Färbemitteln und Sprays enthaltenen Chemikalien aber können mit der Zeit die Atemwege schwer schädigen und Ekzeme auf der Haut verursachen. Daher wundert es wenig, dass Allergien, chronische Erkrankungen wie Asthma und Hautkrankheiten auf der Liste der Gründe für Berufsunfähigkeit bei Friseuren oben stehen. Dazu kommen die Gelenke. Mancher kann sich kaum noch daran erinnern, dass Verspannungen, Kopfschmerzen und Rückenbeschwerden einmal nicht zum Alltag gehörten. Langes Stehen, teils in gebeugter Haltung, hinterlässt mit der Zeit Spuren. Bei vielen ächzen Schultern und Rücken schon nach den ersten Berufsjahren, Bandscheibenvorfälle sind eher Regel als Ausnahme.

Psychische Erkrankungen am häufigsten

Zu den körperlichen Risiken kommt die nervliche Last: Psychische Leiden und Nervenbeschwerden haben den körperlichen Ursachen für Berufsunfähigkeit mittlerweile den Rang abgelaufen. Während bei weniger als 10 Prozent der Betroffenen ein Unfall der Auslöser für Berufsunfähigkeit ist, muss ungefähr ein Drittel aufgrund von psychischen Problemen wie Burnout oder Depression die Karriere beenden. Krebserkrankungen machen etwa 15 Prozent der Schadensfälle aus, Erkrankungen der Wirbelsäule und des Bewegungsapparates etwa 20 Prozent. Vor allem im Hinblick auf die Altersgruppen unterscheiden sich die Auslöser für Berufsunfähigkeit. So treten psychische Probleme bei unter 40-Jährigen mit 35 Prozent statistisch öfter auf als bei den über 50-Jährigen, von denen „nur“ 27 Prozent aus denselben Gründen nicht mehr arbeiten können. Bei den Älteren sind hingegen Gefäß- und Herzerkrankungen mehr als doppelt so häufig der Fall. 

Prognosen deuten darauf hin, dass bis zu 60 Prozent der heute 30-jährigen Friseure im Laufe ihrer Karriere berufsunfähig werden. Dass das Friseurgeschäft härter wird und besonders Selbstständige mit kleinen Salons sich vielerorts am Existenzminimum bewegen, macht die Frage nach einer Berufsunfähigkeitsversicherung nicht leichter. Bianca Boss vom unabhängigen Bund der Versicherten (BdV) kennt das Problem: „Wir empfehlen Versicherungen gegen Risiken, die Betroffene in den finanziellen Ruin treiben können. Dazu gehört die Berufsunfähigkeitsversicherung definitiv.“ Klar im Vorteil ist laut der Expertin, wer sich schon früh durchringen kann, eine solche Versicherung abzuschließen. „Je jünger und gesünder man ist, desto niedriger die Beiträge. Und desto wahrscheinlicher, dass die Versicherung einen nimmt.“

Nachher ist es zu spät

Das ist nämlich längst nicht selbstverständlich. Wer beispielsweise schon einen Bandscheibenvorfall hatte, wird von den Versicherungen wahrscheinlich abgewiesen. Bianca Boss rät, möglichst bald nach dem Eintritt ins Berufsleben seine Prioritäten zu überdenken: „Eine gute Versicherung bedeutet natürlich Konsumverzicht. Aber die Vorsorge kann allesentscheidend sein.“ Wer dagegen ohne Versicherungsschutz eine Zeitlang berufsunfähig wird und anschließend doch noch eine private Versicherung abschließen will, hat keine Chance mehr. Auch Mandy van den Bosch-Macri empfiehlt, das Thema früh anzugehen: „Ich kenne viele Friseure, die noch nie ernsthaft krank waren, sorglos in die Zukunft sehen und das Geld nicht entbehren wollen. Aber gerade in guten Zeiten sollte man für den Notfall vorsorgen.“

Doch auch eine Berufsunfähigkeitsversicherung rettet nicht immer aus der Not, wie das Beispiel von Rolf Schlebes zeigt. Als der Friseur aus dem nordrhein-westfälischen Rhede seine Privatwohnung renovierte, von der Leiter fiel und sich eine Rippe brach, ahnte er nicht, dass er wenig später mit dem Tod ringen würde. Statt sich untersuchen zu lassen, stand er am nächsten Morgen im Salon, nicht wissend, dass sich die gebrochene Rippe in seine Lunge gebohrt hatte. Bald spuckte er Blut, bekam kaum Luft und fiel ins Koma. Die Ärzte räumten ihm weniger als fünf Prozent Überlebenschance ein.

Schwerverletzt und mittellos

Wochen später wachte Schlebes auf, nach ein paar Monaten stand er wieder ganztags im Geschäft. „Es musste einfach weitergehen“, sagt er. Der Ersatz, den Schlebes während seiner Abwesenheit organisiert hatte, hatte mehr Chaos als Ordnung in den Salon gebracht, seine zwei Mitarbeiter hatten gekündigt, Stammkunden wendeten sich ab: „Ich habe viel Spaß an meinem Beruf, aber ich hatte auch keine andere Wahl als zurückzukehren.“ Denn obwohl er in eine Berufsunfähigkeitsversicherung eingezahlt hatte, stand er mittellos da. Der Grund: Nachdem der Friseur wegen Steuerschulden mehrere Monate lang den Beitrag für die Berufsunfähigkeitsversicherung nicht hatte zahlen können, wurde ihm die finanzielle Versorgung verweigert. „Es kam einfach alles sehr unglücklich zusammen“, sagt Schlebes, der sich anderthalb Jahre später, nach acht Operationen und 13 Monaten Krankenhaus, noch immer in der Erholungsphase befindet und dennoch Vollzeit arbeitet. „Langsam geht es wieder bergauf“, sagt er. Trotz allem ist er von der Notwendigkeit einer Berufsunfähigkeitsversicherung fest überzeugt: „Ich habe am eigenen Leib erfahren, dass ein einziger Augenblick alles verändern kann.“ Ob und wann der Augenblick eintritt, ist völlig ungewiss. Nur was danach passiert, muss eben kein Zufall sein.

Wissenswertes zur Berufsunfähigkeitsversicherung in Kürze

  • Gut Ding will Weile haben: Private Versicherungen gibt es viele, aber die Beitragshöhe unterscheidet sich zum Teil enorm. Lieber mehrere Angebote einholen, in Ruhe vergleichen und sich ausführlich beraten lassen. Die vereinbarte Versicherungssumme sollte sich im Bereich des eigenen Nettoeinkommens bewegen, um alle laufenden Kosten decken zu können.
  • Nicht günstig, sondern gut: Niedrige Tarife bergen das Risiko niedriger Leistung, nicht selten gucken Sparer in die Röhre. Und: Unbedingt einen finanzkräftigen Versicherer wählen.
  • Je früher, desto besser: Der aktuelle körperliche und psychische Gesundheitszustand entscheidet darüber, ob eine BU-Versicherung überhaupt abgeschlossen werden kann. Experten raten daher, sich in jungen Jahren abzusichern.
  • Ehrlich währt am längsten: Vor Versicherungsabschluss wird die Krankengeschichte abgefragt: Hier ist unbedingte Ehrlichkeit nötig (und ggf. der Hausarzt zu Rate zu ziehen), da die Versicherungen bei Falschangaben nicht zahlen.
  • Alles was recht ist: Versicherungen suchen naturgemäß nach Schlupflöchern, um nicht zahlen zu müssen. Für den Streitfall kann daher eine Rechtsschutzversicherung stresssparend sein. 

Alternativen zur Berufsunfähigkeitsversicherung

Allgemein ist es wichtig, sich gründlich zu den individuellen Möglichkeiten, Vor- und Nachteilen rund um eine Berufsunfähigkeitsversicherung beraten zu lassen. In manchen Fällen können die folgenden Optionen eine kostengünstigere Alternative sein:

  • Funktionsinvaliditätsversicherung: Unabhängig von der Arbeitsfähigkeit des Betroffenen wird beim Verlust bestimmter Fähigkeiten (oder wenn die Pflegestufe 2 eintritt) eine monatliche Rentenzahlung abgesichert.
  • Dread-Disease-Versicherung: Mit dieser Versicherung lassen sich individuelle Leistungen absichern, die nur dann gezahlt werden, wenn bestimmte, vorher festgelegte Krankheiten auftreten.
  • Grundfähigkeitsversicherung: Hier handelt es sich um eine Risikoversicherung, die an bestimmte Grundfähigkeiten gekoppelt ist: Können diese nicht mehr geleistet werden, tritt die Zahlungsvereinbarung in Kraft.

Text: Constanze Ehrhardt