Für Menschen mit nicht sichtbaren Einschränkungen wie Autismus oder ADHS kann ein Friseurbesuch eine Herausforderung darstellen. Wie man diesen Menschen dennoch einen Friseurbesuch ermöglichen kann, zeigen wir hier.
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Hektik, Stimmengewirr, Telefonklingeln, starke Gerüche, Föhngeräusche: In einem Salon gehört das zum Alltag. Im Salon „Mary Jane“ von Friseurmeisterin Gül Günay in Aalen ist das an den meisten Tagen nicht anders. Bis auf eine Ausnahme: Mittwochs von 14 bis 16 Uhr dämmt sie das Licht, schaltet die Musik ab, das Telefon leise und begrenzt die Zahl der Kunden. Dann ist die „Stille Stunde“, ein Angebot, mit dem sie sich an Autisten, an Betroffene mit ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom), Personen mit dem Tourette-Syndrom oder Legasthenie richtet und an diejenigen, die nicht sichtbare Beeinträchtigungen haben. Sie verarbeiten Umweltreize im Gehirn anders. Zum Teil sind diese Menschen hochsensibel, wodurch ein Friseurbesuch zu einer Herausforderung werden kann. Kopfmassagen oder Haarwäschen können bereits problematisch sein.

Fragebogen hilft im Vorfeld
Gül Günay und ihr Mitarbeiter achten während dieser Zeit auf einen sanften Umgangston und sprechen nur leise. „Wir machen dann auch keine Dauerwellen oder Färbungen.“ Diese Dienstleistungen sind geruchsintensiv und können sich negativ auf Autisten und ADHS-Betroffene auswirken. Ein von Günay entwickelter „Silent-Cut-Fragebogen“ hilft ihr, um sich und ihre Kund*innen vorzubereiten. In diesem Fragebogen geben die Betroffenen ihre Bedürfnisse an. „So ist es uns möglich, auf die individuellen Wünsche einzugehen.“ Der Fragebogen verrät Gül Günay außerdem, welche Berührungen in Ordnung sind und welche nicht.
Mitarbeiterin mit ADHS
Der Salon „Inken B Friseure“ in Leipzig bezeichnet sich selbst als neurodivergenter Friseursalon. „Ich habe eine Mitarbeiterin, die ADHS hat und mein Team und mich für die Bedürfnisse neurodivergenter Menschen sensibilisiert hat“, erläutert Inhaberin Inken Bohli. In ihrem Salon steht am Bedienplatz für die Kund*innen ein Schild, das signalisiert, ob der Gast sprechen möchte oder nicht. „Das ist unser ‚Chat/ Chill-Schild‘. Wenn es auf ‚Chill‘ steht, wird im ganzen Salon nicht mehr gesprochen.“ Darüber hinaus hält die Friseurmeisterin in ihrem Salon für die Kund*innen eine Karte mit Tipps bereit.

Sowohl Inken Bohli als auch Gül Günay empfehlen anderen Salons, die sich auf Betroffene mit nicht sichtbaren Beeinträchtigungen spezialisieren möchten, individuell auf deren Wünsche einzugehen. „Es macht manchmal schon viel aus, wenn Friseure im Vorfeld wissen, dass sie bei manchen Kunden keinen Umhang benutzen oder nicht mit der Maschine schneiden dürfen“, sagt Gül Günay. Darüber hinaus dürfe man keine Vorurteile haben.
Schritt zur Inklusion
Für das Thema Inklusion ist die „Stille Stunde“ von hoher Bedeutung. „Viele Menschen können nicht zum Friseur gehen, weil es diese vielen unbekannten Barrieren gibt. Daher schneiden viele Mütter ihren autistischen Kindern die Haare, wenn diese schlafen“, erläutert Rebecca Lefèvre vom Verein „gemeinsam zusammen“. Der Verein greift das Konzept der „Stillen Stunde“ hierzulande auf und richtet seinen Appell zur Teilnahme unter anderem an Friseur*innen. Von dem „Silent Cut“ würden nicht nur neurodivergente Menschen profitieren, sondern auch alle mit chronischer Schwäche oder Schmerzen. Dazu gehören zum Beispiel Krebs- und Schlaganfall-, aber auch Long-Covid-Patient*innen.

Idee stammt aus Neuseeland
Die Idee für die „Quiet Hour“, die Stille Stunde, stammt von Theo Hogg, einem Neuseeländer und Angestellten eines Supermarktes. Der Verein „gemeinsam zusammen e.V.“ möchte mit dem Projekt helfen, dass Menschen im Autismusspektrum und Personen, die an Reizüberflutung leiden, einmal in der Woche eine einfachere Teilhabe im Alltag erleben dürfen. Mehr Infos
Text: Christoph Ledder
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