Firmengründerin Ellen Wille und Geschäftsführer Ralf Billharz. Foto: Patrick Thee für Ellen Wille

14.10.2021

Die Zweithaarbranche ist ein attraktiver Markt

Mit Zweithaar auf Erfolgskurs: Warum der wachsende Markt nicht nur wirtschaftlich attraktiv ist, erzählt uns Ralf Billharz, Geschäftsführer von Ellen Wille.

Kann man digital Perücken verkaufen? Warum ist die Nachfrage bei Toupets höher als das Angebot? Was bringt die Zukunft in der Zweithaarbranche? Wie unterscheidet sich der deutsche vom internationalen Markt? Mit Ralf Billharz, seit Ende 2019 Geschäftsführer beim Zweithaar-Anbieter Ellen Wille, betrachtet ein ausgewiesener Branchenexperte den Markt: Seit drei Jahrzehnten, zuletzt als Geschäftsführer von Wella, ist Billharz den Friseuren verbunden und analysiert messerscharf den Markt.
 

TOP HAIR: Herr Billharz, Sie sind Ende 2019 als Geschäftsführer von Ellen Wille in den Zweithaarmarkt eingestiegen. Was hat Sie daran gereizt?

Ralf Billharz: Wenn man sich die letzten 15 bis 20 Jahre ansieht, dann ist der Friseurmarkt weitestgehend stagniert, er wächst nicht. Der Zweithaarmarkt ist hingegen nicht nur ein Markt, der sich organisch entwickelt, sondern auch einer mit einem überraschend großen Volumen. Das Volumen ist fast so groß wie der gesamte professionelle Haarkosmetikmarkt – was überrascht und motiviert. Ich hatte zuvor nie beachtet, wie groß dieser Markt ist.

Und Sie sehen da noch mehr Potenzial?

Zum einen ist da der temporäre Verlust von Haar, z.B. durch Krankheit und auch der volle oder partielle dauerhafte Haarausfall. Hinzukommen Personen mit dünnem oder dünner werdendem Haar. Die Bandbreite für Zweithaar ist immens groß und wird bislang von den Friseuren oft nur partiell bespielt, z.B. im Bereich Extensions. Außerdem kann die Perücke ein tägliches Mode-Accessoire sein. In den 60er und 70er-Jahren war sie auch bei uns in der Mode Standard. Heute ist das eine kulturelle Frage: Die Amerikaner gehen z.B. viel extrovertierter damit um. Perücken sind dort etabliert und selbstverständlich – denken Sie etwa an die afroamerikanischen Frauen. Auch in anderen Ländern ist die Perücke als ein Fashion Accessoire eher etabliert. Nur in Mitteleuropa ist sie immer noch weitgehend mit dem Gedanken des ‚Mangels‘ verbunden. Wir arbeiten daran, dass sich dies ändert.

Ellen Wille ist vor allem auf Damen fokussiert. Foto: Ellen Wille
Ellen Wille ist vor allem auf Damen fokussiert. Foto: Ellen Wille

Welche Chancen bieten sich da dem Friseur?

Der Friseur hat hier die Möglichkeit, sich komplett neu zu positionieren. Das liegt zum einen an der demographischen Entwicklung, zum anderen an zunehmenden schädlichen Umwelteinflüssen, Unverträglichkeiten oder Allergien. Zweithaar bietet eine gute Möglichkeit, dass man sich nicht zu Hause einschließen muss.

Welche Rolle spielt die Digitalisierung in der Zweithaarbranche?

Das Online-Geschäft im Bereich Zweithaar ist je nach Ländern unterschiedlich stark. In der Pandemie ist es aber überall sehr stark gewachsen.

Lässt sich Zweithaar wirklich online verkaufen?

Da müssen Sie die unterschiedlichen Käufergruppen betrachten: Das Onlinegeschäft bedient vor allem die regelmäßigen Nutzer von Zweithaar, die genau wissen, was sie brauchen. Auch der Modeanteil überwiegt hier deutlich. Vor allem in den USA wo die Perücke ein modisches Accessoire ist. Davon sind wir hier in Deutschland noch weit weg, der Onlinemarkt bewegt sich hier im gehobenen ein- bis niedrigen zweistelligen Bereich. Ein beratungsbedürftiger Erstkunde wie z.B. eine Chemo-Patientin, hingegen wird eher nicht online kaufen.

Aber durch die Vielfältigkeit der Zielgruppen, werden wir hier dennoch weiter Wachstum sehen. Das birgt aber ebenso ein großes Potenzial für den stationären Handel - der wird sich ebenfalls weiterentwickeln. Der Friseur kann im Dienstleistungs- und Verkaufsbereich wachsen, aber auch Onlineberatung anbieten – wenn er gut geschult ist! Wir sprechen hier über Produkte mit einer signifikanten Wertigkeit und einer hoher Wertschöpfung. Die Zweithaarbranche ist ein attraktiver Markt!

Wie hat sich das Unternehmen Ellen Wille während der Pandemie entwickelt?

Dass die Zweithaarprodukte als medizinische Hilfsmittel nicht vom Lockdown betroffen waren, wussten anfangs viele Verbraucher nicht. Einige unserer Kunden wurden auch von den Paketdiensten nicht beliefert, weil diese dachten, dass der Salon ja ohnehin zu hat. Zu Beginn der Pandemie hatten wir so für zwei, drei Monate eine signifikante Delle, bis es sich gewandelt hat. In einigen Ländern hat der Onlinehandel diese Delle kompensiert. Und auf diesem höheren Niveau ist der Onlinehandel dann auch trotz Lockerungen geblieben.
Hinzukommt, dass sich mit dem Lockdown die Anzahl der Chemotherapien signifikant reduziert hat. Nach dem Lockdown ist die Anzahl wieder deutlich angestiegen und ist immer noch auf einem hohen Niveau. Das hat dazu geführt, dass wir nach einem Rekordjahr 2019, 2020 trotz Pandemie auf einem stabilen Niveau bleiben konnten. Und für 2021 werden wir ein deutliches zweistelliges Wachstum haben. Durch die Krise haben wir gesehen, dass unsere Branche sehr krisenresistent ist. Wobei unser Geschäft in Deutschland nur weniger als ein Viertel unseres Gesamtgeschäftes ausmacht. Dreiviertel erwirtschaften wir inzwischen international. Man kann sagen, Deutschland wächst, der Rest der Welt boomt. Wir stehen also sehr solide da.

Wie viele andere Branchen kämpfen aber auch Sie mit Lieferschwierigkeiten.

Wir sehen eine sehr differenzierte Pandemiekurve, in den Ländern, aus denen wir unsere Produkte beziehen. Unsere Perücken werden in Asien geknüpft.  Als Europa aus dem Lockdown kam, wurden einige unserer Produktionsstandorte zeitweise geschlossen. Und wir können dann nicht mal schnell in andere Standorte ausweichen, denn wir haben sehr hohe Qualitätsansprüche. Die spezialisierte Ausbildung der Knüpfer unserer Produktionspartner in Asien dauert Monate bis Jahre.

Ist absehbar, dass sich das wieder normalisiert?

Ja. Ich denke, bis Ende dieses Jahres, Anfang des kommenden Jahres wird sich das wieder normalisiert haben. Wir haben auch weiterhin hohe Einkäufe getätigt.  Zusätzlich sehen wir uns wie viele Hersteller mit einem globalen Frachtproblem konfrontiert. Unsere Ware kommt aktuell über Luftfracht aus Asien, hier ist die Kapazität sehr begrenzt und Seefracht kommt aufgrund der langen Lieferwege aktuell nicht in Frage.

Wie viel länger müssen die Kund*innen denn derzeit auf ihr Produkt warten?

Der Kunde muss eigentlich gar nicht länger warten. Wir haben knapp 5.000 Produkte im Sortiment. Viele sind sich in Stil und Farbe ähnlich und dadurch können wir dem   Endverbraucher genügend Alternativen anbieten. Wenn man eine gute Beratung durch den Zweithaar-Experten bekommt, muss niemand lange warten, wenn er eine Perücke braucht. Bei den Toupets sieht die Situation leider aktuell ein bisschen anders aus.

Inwiefern das?

In der Regel sind Toupets aus Echthaar und handgeknüpft. Zum einen wird es immer schweres, qualitativ gutes Haar zu bekommen und während wir die meisten Perücken in Indonesien fertigen lassen, werden Toupets hauptsächlich in China hergestellt. Dort hat die Pandemie den gesamten Markt inklusive Beschaffung, Produktion und Transport über Monate gelähmt. Jetzt brauche ich aber als Toupetträger viel häufiger ein neues Produkt. Das führte dann zu einer gewissen Verknappung.

Welche Rolle spielen die Männer überhaupt bei Ihnen?

In erster Linie sind wir ein Zweithaaranbieter für Frauen. Aber wir sehen auch, dass die Offenheit für Haarersatz bei Männern immer größer wird. Vor allem im arabischen Kulturraum und in Südeuropa nimmt volles Haar bei Männern einen hohen Stellenwert ein. Und der Bedarf kommt langsam auch in Mittel- und Nordeuropa an.  Den klassischen „Fiffi“ gibt es heute auch gar nicht mehr. Einen Toupet-Träger erkennt heute nur noch der Fachmann und das Toupet ist dabei noch viel mehr ein Dienstleistungsmarkt.

Warum?

Anders als bei einer Perücke muss der Toupet-Träger alle paar Wochen zu seinem Dienstleister. Das Toupet reinigen und wieder anpassen ist absolut Sache des Fachmanns. Hier können Friseure punkten.

Dem Toupet hatten Sie mit Einstieg bei Ellen Wille 2019 eine große Zukunft vorausgesagt. Hat sich das so nicht erfüllt?

Der Markt dafür ist absolut da! Wir können ihn derzeit nur nicht zuverlässig bedienen. Die Herrensparte könnte sicher schneller wachsen. Insofern haben wir hier eine Lieferkettenproblematik und keine Marktproblematik. Für uns ist das nicht sehr dramatisch, da sie aktuell nur eine kleine Rolle in unserem Portfolio einnimmt.

Können Sie diesen Anteil beziffern?

Wir bewegen uns hier noch im einstelligen Bereich. Oder anders gesagt: Über 90 % unseres Portfolios ist auf Damen und das Thema Mode fokussiert.

Muss es immer Echthaar sein?

Nein. Es ist ein Irrglaube, dass eine gute Perücke Echthaar sein muss. Es ist viel einfacher eine Synthetikfaser zu tragen, weil viel leichter in der Handhabung und Pflege. Eine hochwertige Synthetikfaser bleibt auch immer in Form und mittlerweile gibt es hitzebeständige Fasern, die sich umformen und somit immer wieder anders stylen lassen. Gerade bei den neuen Fasern merken Sie kaum mehr, ob das Kunst- oder Echthaar ist. Der Unterschied in Optik und Haptik wird immer geringer.

„Was ich in der Zweithaarbranche entdeckt habe, ist ein Markt, in dem das Sinnstiftende enorm ist.“

 

Wo geht die Reise für Ellen Wille hin?

Ellen Wille definiert sich vor allem über Ready-to-wear-Produkte, modische, leicht tragbare und pflegbare Produkte. Weitere Entwicklungen werden sicherlich in Richtung Synthetik- und Mischfasern stattfinden. Dafür arbeiten wir mit High-Tech-Firmen in Asien zusammen. Ellen Wille war immer schon Innovations-Leader in der Branche. Sie entwirft auch heute noch täglich Neues. Ich denke, in Zukunft werden wir uns noch viel stärker mit den Herstellern vernetzen müssen. Denn langfristig sehen ich uns weiterhin in der hochwertigen Premium- und Luxusecke. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir künftig Fasern haben werden, die noch leichter zu stylen sind, noch weniger Gewicht haben und dem Echthaar in den relevanten Kriterien überlegen sind.

Wenn die Kunstfaser das Echthaar ersetzt, hat das dann auch Auswirkungen auf die Preise der Produkte?

Der größte Anteil in den Herstellerkosten sind die Personalkosten für die Knüpfer. Und die werden sich durch eine Synthetikfaser nicht ändern. Natürlich gibt es auch Anbieter, die nur maschinell arbeiten. Das sehen wir aber nicht als die bestmögliche Lösung für den Endverbraucher und deshalb auch nicht für uns. Insofern wird der Anteil handgeknüpfter Produkte weiterhin hoch sein. Echthaar wird in der Qualität, in der wir es brauchen, immer begrenzter werden. Nirgends steigt der Preis so stark wie beim Rohstoff Echthaar. Deshalb sind wir mit hochwertigen Synthetikfasern sicherlich auf dem richtigen Weg. Und wie gesagt: Für Laien ist das heute auch kaum mehr von Echthaar zu unterscheiden.

Wie würden Sie Friseuren das Thema Zweithaar schmackhaft machen?  

Der Friseur sollte sich generell mit der Frage befassen, wie sein Geschäftsmodell zukünftig aussehen soll und wie er Zweithaar als Teil seiner Strategie einsetzen könnte, um sein Unternehmen zu entwickeln und mehr Wünsche seiner Kunden erfüllen zu können.  Dies hat selbstverständlich eine betriebswirtschaftliche Komponente, aber sicherlich auch eine sehr persönliche und sinnstiftende in diesem Markt:
-Welche Investition muss ich tätigen?
- Wie oft habe ich potenzielle Kunden im Salon?
- Wie hoch ist die Marge?
- welche Mitarbeiter sind geschult und geeignet?

Friseurunternehmer, die sich mit dieser Strategie beschäftigen möchten stehen wir gerne zur Verfügung. Am Ende ist es wichtig, wie wir als Zweithaarbranche am Markt und beim Endkunden wahrgenommen werden. Denn die finale Entscheidung wie der Markt sich entwickelt, trifft der Endkunde. Und da ist sicher noch viel zu tun - aber das birgt auch große Chancen.

 

Ellen Wille – The Hair Company

Ellen Wille gründete ihr Unternehmen Ellen Wille – The Hair Company 1967 und wächst seitdem kontinuierlich. Das Unternehmen mit Sitz in Schwalbach ist vor allem international tätig und beschäftigt heute mehr als 150 Mitarbeiter. Immer wieder machten das Unternehmen und seine charismatische Gründerin mit den auffälligen Brillen durch neue Erfindungen und Produktlinien auf sich aufmerksam. Für Ihr Wirken hat Ellen Wille bereits mehrere Preise und Auszeichnungen erhalten, eine eigene gemeinnützige Stiftung engagiert sich für Kinder und Jugendliche. 2019 wurde eine Haarlösung für Herren entwickelt und Ralf Billharz, ehemals Geschäftsführer von Wella DACH, wurde Geschäftsführer des Unternehmens.