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11.09.2019

Urteil des Monats: Die Zeiterfassung kommt

Ein aktuelles Urteil des europäischen Gerichtshofes rückt das Thema Zeiterfassung in den Fokus. Unser Rechtsexperte Sven Kobbelt hat sich das Urteil genauer angeschaut und erläutert, was es für Sie bedeuten kann.

1. Was ist passiert?

Bislang waren die Arbeitszeiten in einer Bank unter der Sonne Spaniens nach dem Vertrauensprinzip geregelt. Die vereinbarten Stunden waren von den Arbeitnehmern zu erbringen, manchmal wurde es abends etwas länger. Dafür durfte die Mittagspause im Gegenzug auch mal ausgedehnt werden. Es hätte alles so friedlich sein können – bis der Gewerkschaft der Verdacht kam, dass es deutlich öfter abends länger und deutlich seltener die Mittagspause ausgedehnt wird. Kurzum: Die legere Arbeitszeitenregelung diene vor allem dem Arbeitgeber, der sich die Abrechnung von Überstunden erspare. Und selbst wenn es sich die Waage hielte, hätten die Arbeitnehmer ein Recht zu erfahren, wie viele Stunden genau sie monatlich leisten. Der Arbeitgeber sei also verpflichtet, ein Zeiterfassungssystem zur Verfügung zu stellen. Der Streit wird schließlich vor Gericht ausgetragen. Weil sich eine Verpflichtung zur Zeiterfassung auch aus EU-Recht ergeben kann, entledigt sich das Gericht des Problems und verweist den Fall zum EuGH.

2. Was sagt das Gericht?

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) musste entscheiden, ob sich aus den EU-Vorschriften zur Arbeitszeit und zum Arbeitsschutz eine Verpflichtung zur generellen Zeiterfassung durch den Arbeitgeber herleiten lässt. Die grundlegenden Schutzrechte der Arbeitnehmer sind in der EU-Richtlinie 2003/88 erfasst. Nationale Gesetze dürfen die Richtlinie konkretisieren, nicht aber zum Nachteil der Arbeitnehmer abweichen. Tatsächlich gelangt der EuGH zu dem Ergebnis, dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, auf nationaler Ebene dafür Sorge zu tragen, dass die Arbeitszeiten von Arbeitnehmern zutreffend erfasst werden. Nur mit einer präzisen Erfassung sei die Einhaltung von Mindest- und Höchstarbeitszeiten wirksam zu überwachen. Fehlt eine entsprechende Regelung, ist diese zur Umsetzung der Richtlinie 2003/88 durch den nationalen Gesetzgeber zu schaffen.
(EuGH, 14.05.2019 - C-55/18 – abrufbar über curia.europa.eu)

3. Was heißt das für Sie?

Die wenigsten Leser werden Mitarbeiter einer Bank in Spanien sein. Das Urteil des EuGH hat trotzdem eine immense Bedeutung. Denn die Rechtsprechung ist nicht nur an den spanischen Gesetzgeber adressiert, sondern an alle Mitgliedsstaaten. Auch Deutschland muss überprüfen, ob im nationalen Recht eine Pflicht zur Erfassung der Arbeitszeit für alle Arbeitgeber besteht oder ob es sogar einer solchen Pflicht entgegenstehende Regelungen gibt. Bislang schreibt das ArbZG nur die Erfassung von Überstunden, nicht aber die vollständige Erfassung der Arbeitszeiten vor. Da das Urteil des EuGH bindend ist, wird der Gesetzgeber das ArbZG reformieren müssen. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung muss aufgenommen werden. Dabei bleibt dem Gesetzgeber ein gewisser Spielraum, vorstellbar ist beispielsweise eine Ausnahme von Kleinbetrieben, wenn diese durch die Erfassung übermäßig belastet wären. Ob solche Spielräume ausgenutzt werden, dürfte auch von den kommenden politischen Mehrheiten im Bundestag abhängen. Grundsätzlich gilt: Haben Sie die Arbeitszeiten im Salon bislang auf Vertrauensbasis gehandhabt und Mehrarbeit flexibel ausgeglichen, dürfte dies spätestens mit der Umsetzung des EuGH-Urteils nicht mehr zulässig sein. Das greift tief in das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein und dürfte auch einen bürokratischen Mehraufwand bedeuten.

Tipp: Anstatt aufwendiger Loch- oder Stempelkarten gibt es heute recht preisgünstige Geräte, an denen die Mitarbeiter mit einem Fingerabdruck unkompliziert ein- und auschecken können und die Arbeitszeiten sofort digital erfasst und ausgewertet werden. Der kommenden Novelle des ArbZG können wir daher kopfschüttelnd aber relativ gelassen entgegensehen.

Sven Kobbelt ist Rechtsanwalt und Experte für mittelständische Unternehmen.