03.07.2020
Kolumne Lars Nicolaisen: Die Last der Sterne
„Es gibt nur noch Schwarz oder Weiß“ – unser Kolumnist Lars Nicolaisen über den Verfall der Diskussionskultur und öffentliche Bewertungen.
Schon 2016 ahnte ich Schreckliches, als ich sah, wie radikal und rücksichtslos Donald Trump mit seiner Gegenkandidatin Hillary Clinton umging. „Solch ein unmoralischer Mensch kann niemals Präsident der Vereinigten Staaten werden“, hatte ich damals gehofft und gedacht, doch ich sollte mich irren. Die vergangenen Jahre erleben wir, ausgehend auch vom Oval Office im Weißen Haus, dass sich unsere Diskussionskultur in der westlichen Welt stark verändert hat.
Andere Meinungen werden nur noch selten akzeptiert. Es gibt viel zu viele Menschen, die sich anscheinend damit begnügen, bei komplexen Themen nur die Überschrift zu lesen, sich eine Meinung zu bilden und diese dann unbedingt zu verteidigen. Diese Entwicklung registriere ich auch in unserer Branche. Sie stimmt mich nachdenklich und traurig. In Friseurgruppen und in sozialen Netzwerken ist es verdammt mühevoll, unterschiedliche Sichtweisen aufzuzeigen und zuzulassen. Es scheint nur noch Freund oder Feind zu geben. Und im Salonalltag fängt es an, sich ähnlich zu verhalten. Auch hier habe ich das Gefühl, als gebe es nur noch Schwarz oder Weiß – aber hat das Leben nicht verdammt viele Grautöne?
Jubel oder Verriss
Wie oft haben Sie bei Google (oder einem anderen Bewertungsportal) drei Sterne erhalten? Selten, oder? Meistens geben Kunden fünf Sterne und jubeln – oder man bekommt einen Stern und wird so stark verrissen, dass es unmöglich erscheint, dass anschließend überhaupt noch eine einzige Kundin den Salon betreten wird. Ich kann mit dieser emotionalen Zuspitzung immer weniger anfangen. Und je älter ich werde, desto mehr kopple ich mich auch davon ab. Nehmen Bewertungen einen zu großen Raum ein, dann besteht die Gefahr, in einer nie aufhörenden Gefühls-Achterbahn zu sitzen. Die nächsten fünf Sterne lassen einen zu selbigen schweben, ein Stern wird für schlechten Schlaf sorgen und einen mürrisch und zerknirscht zurücklassen. Muss das sein? Müssen wir uns diesem emotionalen Kampf stellen? Die klare Antwort lautet JEIN!
Natürlich gehören öffentliche Bewertungen mittlerweile zu unserem ganz normalen Alltag. Es stellt sich nicht die Frage, ob wir das gut finden oder nicht. Auch wenn man die Nacht nicht mag, wird es alle 24 Stunden wieder dunkel. Dies sind Gegebenheiten, die wir nicht beeinflussen können. Und Bewertungen im Internet sind gelernt, sind wichtig fürs Image und müssen vom Unternehmen ernst genommen werden. Doch wer sagt denn, dass wir immer gleich reagieren müssen, wenn jemand anderes eine Bewertung abgibt? Eben.
Reagieren ja, das Tempo geben Sie vor
Das wichtigste Bewertungsportal ist Google. Man sollte unbedingt einen Google-Business-Account besitzen, um (fast) alles beeinflussen zu können, was bei Google über den eigenen Salon zu finden ist. Dort können Sie u. a. nicht nur Öffnungszeiten und Fotos einstellen, sondern können auch als „Inhaber“ auf alle Bewertungen reagieren. Und ganz genau das sollten Sie auf alle Fälle tun!
Bei fünf Sternen bedanke ich mich immer für diese großartige Empfehlung und versuche noch zwei, drei Sätze zu finden. Bei einem Stern und einem völligen Verriss, gehe ich eigentlich immer gleich vor. Vier Bausteine arbeite ich in meine Antwort ein:
- Ich bedanke mich für den langen Text und die Mühe, die dahintersteht.
- Ich äußere mein Bedauern, dass man mit unserer Leistung nicht zufrieden ist.
- Ich erkläre, wie sich für uns der Besuch darstellte und zeige Wege auf, wie wir nun schnell und unkompliziert helfen können.
- Zum Schluss teile ich meine private Mail- Adresse mit der Bitte mit, sich bei mir zu melden. Wir werden dann eine Lösung finden.
Wie bitte? Ob ich wirklich meine private Mail- Adresse öffentlich in einem Bewertungsportal mitteile? Natürlich nicht! Wir haben für solche Fälle eine extra Adresse eingerichtet, die direkt ins Büro geleitet wird. Insofern ist diese „private“ Mail-Adresse zwar gar nicht „privat“, aber sie ist auch nicht gelogen. Die Mails können wirklich nur meine Assistentin bzw. ich lesen. Nicht aber die Salon-Mitarbeiter! Ich habe in all den Jahren nicht ein einziges Mal eine E-Mail von solch einer Ein-Stern-Bewertung erhalten. Aber ich erhalte viel Zustimmung von Mitarbeitern und Kunden, wenn man meine Erklärungen findet und liest. Wir nehmen unsere Gäste ernst – und genau das wird durch eine aktive Feedback-Kultur auf Google sichtbar.
Das ist mein Weg
Ich habe mir hierfür in meinem Kalender an jedem zweiten Montag eine Stunde reserviert. Das gibt mir ein gutes Gefühl, denn ich weiß, ich werde alle Bewertungen recht zeitnah öffentlich beantworten. Klar ist es manchmal ärgerlich, dass ich nicht sofort reagiere. Andererseits habe ich für mich so einen passenden Weg gefunden, das Tempo selbst zu bestimmen und mich nicht ständig von Dritten durchs Dorf jagen zu lassen. Diese Vorgehensweise hat meine ganze Gedankenwelt beeinflusst. Ich versuche auch bei Kunden und Mitarbeitern nicht sofort auf alle Fragen immer eine Antwort zu geben. Ich möchte mir Raum und Zeit nehmen, um verschiedene Gedanken zu filtern. Diese Entschleunigung klappt natürlich nicht immer, aber sie klappt öfter als gedacht. Ich bin davon überzeugt, dass es meine Lebensqualität verbessert hat. Meine Entscheidungen sind ausgewogener als früher und somit die Ergebnisse oftmals schlicht und einfach besser. Ebenfalls hat diese Vorgehensweise dazu geführt, mich auch nicht mehr täglich mit Facebook, Instagram & Co. zu beschäftigen. Eine echte Verbesserung. In diese emotionalen Achterbahnen steige ich nur noch selten ein. Und wenn ich es tue, dann mit vollem Bewusstsein.
Es könnte also alles so gut sein, wäre da nicht dieser gefährliche Brandstifter im Weißen Haus. Der schafft es tatsächlich, dass ich bei vielen Tweets sofort wie ein HB-Männchen durch die Decke gehe. Wer jetzt nicht weiß, was ein „HB Männchen“ ist, ist jung genug, um sich an meine heutigen Ratschläge nicht zu halten. Ihr habt noch genügend Energie. Für alle anderen waren heute hoffentlich ein paar sinnvolle Tipps dabei.
Lars Nicolaisen schreibt neben seinem eigenen Blog "Salongeflüster" auch regelmäßig eine Kolumne in der Printausgabe der TOP HAIR Business. Ob Mitarbeiter, Kunden oder auch das „Große Ganze“ – der Unternehmer und Branchenkenner bezieht gern Stellung. Mehr Nicolaisen? Unser Abo finden Sie hier.