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04.02.2021

Moral und Doppelmoral: Leserbrief von Friseurunternehmer Stefan Hagens

Stefan Hagens, Inhaber des Salons "Hairliner's" in Bremen, setzt sich in einem Leserbrief mit der Moral der Menschen im Lockdown auseinander.

„Vor gar nicht all zu langer Zeit haben wir uns noch dem GEIZ IST GEIL Lockruf einer großen Elektronikhandelskette hingegeben und allen Anstand vergessen. Hauptsache, wir konnten den Flug nach Mallorca billiger ergattern, als der Schnurrbartträger von Gegenüber oder meinem Golfclub-Vereinskollegen Carl-Friedrich. Denn die GEIZ IST GEIL Mentalität und der Verlust der Werte zieht sich durch alle sozialen Schichten.

Zwar kitzelt im hintersten Winkel des einen oder anderen Gehirn der Einwand, dass man zum Beispiel für 4,99 Euro nun wahrhaft weder ökonomisch, noch ökologisch auf des Deutschen liebste Insel fliegen kann, aber was schert mich in diesem Moment Arbeitsschutz und Umweltschutz.

Jetzt bin ich wichtig!

Dem Gewerkschaftsaufruf für höhere Gehälter und bessere Arbeitsbedingungen folgt man dann nächste Woche. Und wenn Greta ruft, dann finde ich es vollkommen richtig, dass meine im Wohlstand aufgewachsene Kinder während der Schulzeit freitags vorm Rathaus sitzen. Natürlich erst, wenn wir von Mallorca zurück sind…

Gut, dass es nicht nur die einfache Moral gibt, sondern auch die Doppelmoral.

Aber da muss es doch wirklich niemanden mehr wundern, wenn unsere Werte inzwischen so weit im Keller sind, dass mehr und mehr Menschen es inzwischen „GEIL“ finden, der Gesellschaft eine lange Nase zu ziehen.

Wenn man sich am Anfang der Pandemie, im ersten Lockdown, nur hinter vorgehaltener Hand über die perfekten Haarschnitte junger Männer in der Lieblings-Dönerbude um die Ecke gewundert hat, ist es heute vollkommen normal geworden, einen frisch gestylten Haarschnitt zur Show zu tragen.

Bei Edeka an der Kasse, am Schalter der Sparkasse, auf der Straße…

„Schaut her, ihr dummes Volk, ich war beim Friseur!“

Lockdown ist was für Lemminge.

Es scheint heute vollkommen verständlich und normal zu sein, im Lockdown zum Friseur zu gehen. Profifußballer machen das doch auch. Und auch Frau Merkel. Eigentlich kritisieren wir ja viel lieber an Frau Merkel und ihrer Politik rum, aber wenn die Kanzlerin auch zum Friseur geht, dann zeigt sich ein Volk solidarisch, erklärt sich gemeinschaftlich zur zweitwichtigsten Person im Land und lässt sich ebenfalls die Haarfarbe auffrischen.

Und wer hat denn schon Corona? Ich nicht! Mein Friseur auch nicht. Niemals. Mein Friseur macht ja nur mir die Haare. Und meiner Kollegin. Meiner Freundin vielleicht auch noch. Und die Nachbarin, bei der mein Friseur gestern war…aber die hat ja auch kein Corona. Glaube ich…

Außerdem braucht mein Friseur das Geld! Man kann ja überall lesen, dass Friseure nichts verdienen. Ich habe sogar gehört, die müssen jetzt – wie beim Bäcker – jeder Kundin und jedem Kunden einen Kassenbon ausdrucken!? Wie soll der denn da noch was verdienen oder seine Mitarbeiter auch zukünftig schwarz bezahlen, wenn er jetzt plötzlich, gesichert durch eine TSE Einheit, alles beim Finanzamt angeben muss?

Dass eine ganze Branche schon seit Jahren an Schwarzarbeit krankt, wird von den Verantwortlichen nur mit Scheuklappen gesehen. Kunden und Friseure predigen gar, dass sie in die Illegalität „gezwungen“ werden.

Was ist bloß? Ich habe jedenfalls gerade das Gefühl, „Anstand“ kommt im Duden gleich nach „Fußpilz“.“

Stefan Hagens

Friseurunternehmer in Bremen

https://www.hairliners.de/