Foto: Martina Schäfer

01.08.2023

Demente Kunden: „Ich muss das Vertrauen jedes Mal neu gewinnen.“

Für Martina Schäfers Stammkunden ist der Besuch in ihrem Haarstudio immer wieder ein neues Erlebnis. Denn viele von ihnen sind dement. Die Friseurmeisterin möchte Kollegen im Umgang mit Demenzkranken im Salon unterstützen.

Die Initialzündung für die Gründung des „Haarstudio für Menschen mit Demenz“ gab Martina Schäfers Zeit als mobile Friseurin auf einer Demenzstation. Sieben Jahre lang schnitt sie dort den Menschen in einem kahlen Badezimmer die Haare. „Es waren viele Kriegskinder dabei. Wenn ich in dieser Umgebung mit meinem Rasierer bei den Männern anfing, kamen Erinnerungen hoch, viele bekamen Angst. Das war schlimm und ich dachte, das kann man besser machen!“, erzählt sie. 2020 absolvierte Martina Schäfer ihre Weiterbildung zum Betriebswirt. Die Projektarbeit im Bereich Innovationsmanagement schrieb sie zum Thema: „Umgang mit demenzkranken Kunden im Friseurhandwerk“.

Gegenstände von früher helfen beim Entspannen

Martina Schäfer will in Verbindung mit dem Friseurhandwerk Gutes tun. Der Bedarf, auf angemessene Weise, nicht nur mit Demenzkranken, sondern generell mit Senioren oder auch behinderten Menschen umzugehen, sei groß. Die Friseurmeisterin weiß das aus eigener Erfahrung. Ihre heute 12-jährige Tochter kam schwerstbehindert zur Welt, auf der Behindertenstation schnitt Martina Schäfer den Patienten die Haare. Seit ca. drei Jahren hat die 47-Jährige nun ihren eigenen Salon im Gebäude des Seniorenzentrum Domherrengarten in Essenheim. Sie betreut dort zwei Häuser mit rund 140 Patienten und arbeitet zusätzlich weiterhin als mobile Friseurin für Menschen, die zu gebrechlich sind, um das Haus zu verlassen.

Der Salon ist nostalgisch eingerichtet, man findet viele Erinnerungen an „früher“: Poster von Marilyn Monroe und James Dean, filigrane Sammeltassen oder eine alte Kaffeemühle. „Wenn meine Kunden ihren Wohnbereich verlassen, ist das aufregend für sie. Für viele bedeutet es echten Stress, manche sind verängstigt. Sie müssen jedes Mal aufs Neue Vertrauen fassen. Gegenstände aus der früheren Zeit, an die sie sich erinnern, machen das einfacher“, erklärt Martina Schäfer. Eine Box zum Erfühlen einzelner Gegenstände schafft Ablenkung, beruhigende Farbwechsel- und Lavalampen sorgen für eine entspannte Atmosphäre.

Das kleine Haarstudio weckt Erinnerungen an früher, Foto: Martina Schäfer

 

Sich an die Biografie herantasten

Zum Umgang mit demenzkranken Kunden gehört für die Friseurin auch die Beschäftigung mit ihrer Biografie. So notiert sie sich beim ersten Gespräch viel über den Menschen, der bei ihr auf dem Stuhl sitzt. Was war er von Beruf? Welche Hobbys hatte er oder hat er noch? Wie hat sein früheres Leben ausgesehen? Daran kann die Saloninhaberin bei den nächsten Terminen anknüpfen. „Ich habe einen Kunden, der Angst hat vor dem Friseurbesuch. Wenn ich ihn auf seinen früheren Beruf Gas-Wasser-Installateur anspreche, fängt er an zu reden, ist abgelenkt, beruhigt, und ich kann seine Haare schneiden.“ So lerne sie die Menschen von Besuch zu Besuch besser kennen, finde heraus, wie weit die Demenz fortgeschritten ist, wisse, was der Gast erzählen will, und könne seine Wünsche respektieren.
 

In diesem Moment wohlfühlen

Man müsse einen Weg finden – verbal oder non-verbal ­– den Menschen zu knacken. Eine Bewohnerin kann Martina Schäfer nur über Berührung beruhigen. Es hilft schon, über die Wange zu streichen, mit den Fingern durch das Haar zu fahren und es zu bürsten. Bei einer anderen Kundin weiß sie, dass sie traurig wird, wenn sie ihr eigenes Spiegelbild sieht. Hier stellt Martina Schäfer ein Landschaftsbild vom Nordseestrand vor den Spiegel und schaltet Meeresrauschen ein. Dabei schläft die Kundin ein und die Friseurin kann ihr entspannt die Haare schneiden. „Es ist oft auch tagesformabhängig, wie gut der Friseurbesuch gelingt. Man muss flexibel sein, sich einlassen“, weiß die Expertin. Genauso wichtig wie Flexibilität ist aber Struktur, deshalb erfolgen die Termine im „Haarstudio für Menschen mit Demenz“ in einem festen Rhythmus, das ganze Jahr ist für den Kunden fest durchterminiert.  Der Besuch in ihrem Salon soll für ihre Kunden ein schönes, entspanntes Erlebnis sein – wie für alle anderen auch, die einen Friseurbesuch genießen. „Ich halte mir immer vor Augen: Das sind Menschen, die heute vielleicht zum letzten Mal zum Friseur gehen. Und sie sollen sich hier, in diesem Moment, wohlfühlen“, sagt Martina Schäfer.

Bei ihrer Arbeit erreiche sie viel Positives über Beobachten, sich einfühlen in den anderen Menschen, in den Schuhen des anderen gehen. Ein Friseur bringe eigentlich alle diese Kenntnisse und Fähigkeiten mit, ist ihre Meinung. Über die Jahre hat Martina Schäfer ihre Kenntnisse und Erfahrungen weiterentwickelt, hat viel über Demenz recherchiert, steht in intensivem Austausch mit den Pflegefachkräften.

Martina Schäfer an ihrer Rezeption, Foto: Martina Schäfer

 

Viele Friseure haben Berührungsängste

Martina Schäfer möchte nun auch anderen Friseuren ihre Arbeit mit Senioren und Demenzkranken nahebringen und Hilfestellung und Anleitung geben. Dafür hat sie ein Konzept erstellt, hat mit Friseuren gesprochen und bietet Workshops für den Umgang mit demenzkranken Kunden an. „Viele Friseure haben Angst vor dem Umgang mit Demenzkranken. Doch es ist ein wichtiges Thema, auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht: Friseursalons haben Kunden, mit denen sie alt werden.“ Der demografische Wandel bringt es mit sich, dass es immer mehr ältere Menschen gibt, darunter auch immer mehr demente Menschen. Sie sind körperlich vielleicht noch fit, können in den Salon kommen, aber der Umgang ist ein anderer. „Für die Angehörigen, die begleiten, ist ein Friseur, der im Umgang mit Demenzkranken geschult ist, eine große Erleichterung. Es ist eine andere Form des Handwerks, aber eine sehr wertvolle Form“, findet sie.

Als Mitglied in der Innung macht Martina Schäfer aktiv auf ihre Arbeit aufmerksam, zum Beispiel auch mit dem Projekt auf Instagram, „Gib Demenz ein Gesicht“. Sie möchte damit zeigen, dass auch Menschen, die alt und dement sind, sich gepflegt fühlen, schön aussehen und ihre Würde behalten möchten. Speziell für die Bedürfnisse von älteren Menschen entwickelt Martina Schäfer nun sogar eine Produktserie: „Schonend zur reifen Kopfhaut, mit Inhaltstoffen, wie Teebaumöl oder Aloe vera, mit angenehmen Düften und zu einem Preis, den Senioren sich leisten können.“

 



Martina Schäfer bietet Workshops bei sich im Studio an, kommt auf Wunsch aber auch gerne in Ihren Salon. Mehr Infos zu ihrer Arbeit und ihren Workshops unter www.haarstudio-fuer-menschen-mit-demenz.de und auf Instagram: @ haarstudio_martina_schaefer, @frau_demenz

 

Text: Susanne Vetter