14.02.2024
Leben mit dem Tourette-Syndrom
Der Sohn von Sabine Eisenmann war neun Jahre alt, als bei ihm das "Tourette-Syndrom" diagnostiziert wurde. Heute, über 25 Jahre später, hat die gelernte Friseurmeisterin gemeinsam mit ihrer Schwester ein Buch über ihre außergewöhnliche Familiengeschichte auf den Markt gebracht, das anderen Mut machen soll.
TOP HAIR: Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Ihre Familiengeschichte niederzuschreiben?
Sabine Eisenmann: Bei uns ging es schon immer turbulent zu. Es gab einfach viele Baustellen. Mein Sohn Florian hatte als Kleinkind Neurodermitis, dann wurde bei ihm das Tourette-Syndrom diagnostiziert. Irgendwann haben meine Schwester und ich aus Witz gesagt, die Familie müsste eigentlich ein Buch schreiben. Und ich fand die Idee schön, meinen beiden Kindern so eine Art Vermächtnis zu hinterlassen. Weil es bei uns zu Hause einfach anders zuging und vom normalen Leben total abwich. Und so fing meine Schwester, die oft bei uns war, irgendwann an, mitzuschreiben. Mir liegt das Schreiben nicht so sehr, aber sie hat wirklich Talent.
Sandra Leitner-Wölfer: Wir sind uns als Schwestern sehr nah und uns sehr ähnlich in vielen Dingen, deshalb konnte ich das Buch auch so gut wiedergeben.
Was hat Ihre Familie dazu gesagt?
SE: Wir haben natürlich zunächst mit unserer Familie gesprochen. Warum wollen wir denn ein Buch machen? Was ist unser Antreiber? Warum in die Öffentlichkeit gehen mit doch sehr persönlichen Geschichten? Letztendlich kamen aber auch von außen so viele Zufälle dazu, dass wir uns dazu entschieden haben, das Buch auch für die Öffentlichkeit zu schreiben. Mir war wichtig, dass meine Familie immer weiß, wo wir gerade stehen. Und ich habe gemerkt, wenn sie nicht mitkamen. Wenn ich von mir erzähle, kann ich das tun, aber nicht für die anderen. Da müssen sie auch mitkommen.
Der Titel des Buches „F*cken, F*tze, Feuer frei“ ist ja sehr prägnant …
SE: Ja, aber es trifft es auf den Punkt. Das war eben die tägliche Ansprache. Wo andere Kinder "Mama" sagen, war ich eben die F*tze. Feuer frei beschreibt die Krankheit, denn das kam wie aus der Pistole geschossen.
Wie haben Sie denn überhaupt gemerkt, dass etwas nicht stimmt mit Florian?
SE: Bis wir überhaupt eine Diagnose bekamen, hat es anderthalb Jahre gedauert. Letztendlich ist es ja so: Du machst ja nicht die Schublade auf und sagst, es ist Tourette, sondern du merkst auf einmal, dass sich das Kind verändert. Ich will mal ein Beispiel nennen: Florian spielt Fußball, spuckt auf den Boden. Das ist ja eigentlich nichts Besonderes. Wenn du aber merkst, dass er mehr auf den Boden spuckt, als Fußball zu spielen, denkst du schon: okay, was war jetzt das?
Sie nennen ein weiteres Beispiel in Ihrem Buch ...
SE: Oh ja, das ist unser Paradebeispiel: Bei einer Fußball-Weihnachtsfeier hat Florian quer über das Buffet gespuckt. Da wünscht man sich, dass sich der Boden unter einem auftut. Ich bin dann mit ihm zu einem Arzt gegangen, der mir gesagt hat, der Junge sei schlichtweg schlecht erzogen. Da war ich natürlich am Boden zerstört, denn es war klar: Ich war schuld.
Aber Sie hatten im Gefühl, dass etwas nicht ok ist?
SE: Das schon, aber man ist einfach verunsichert. Mein Mann war der Meinung, wir müssten strenger werden und das hat auch eine Zeit lang tatsächlich funktioniert, aber ich habe Florian beobachtet und bemerkt, dass er sich Mechanismen einfallen ließ. Da war das Spucken eben weg, da fing er an mit dem Lecken. Er hat den Rasen abgeleckt, die Straße. Die Mechanismen wurden immer ideenreicher. Und da spürt man, das einer den anderen beobachtet. Das war eine sehr schwierige Phase und die Diagnose dann für mich ganz klar ein Befreiungsschlag.
Wie ist es dann zu der Diagnose gekommen?
SE: Wir waren irgendwann so weit, dass wir Florian von der Schule nehmen wollten, um die anderen Kinder zu schützen. Aber die Lehrerin war dagegen, sie sagte, Florian sei krank. Also sind wir noch einmal zum Arzt gegangen, zu einem Psychologen, der dann auch die Diagnose „Tourette“ gestellt hat.
Welche Botschaft möchten Sie den Leser*innen
vermitteln?
SE: Ich möchte mit dem Buch anderen Mut machen. Egal, wer sagt, die Krankheit ist nicht heilbar, die schlimmen Prognosen, ich wollte das einfach gar nicht glauben. Und ich durfte erleben, dass es tatsächlich bei uns besser lief als bei anderen. Viele kleine und große Wunder sind geschehen. Meine vielen W-Fragen: Wird er jemals selbstständig sein? Wird er jemals eine Frau haben? Wird er einen Job haben? Alle W-Fragen haben sich – und das kann ich jetzt nach zehn Jahren sagen - geklärt. Bei allem, was mich früher so gequält hat, sehe ich heute das Ergebnis. Wie Nena singt: Man darf nicht alles glauben, was man sieht. Manches wird einfach besser. Das ist auch bei den Lesungen, die ich mache, meine Botschaft. Lachen und Weinen liegen nah beieinander, aber das war mir auch wichtig, dass ich sage: Natürlich war manches einfach blöd, aber mit Humor geht vieles leichter.
Wie sind die Reaktionen in Ihrem Umfeld nach dem Erscheinen des Buches?
SE: Viele aus unserem Ort haben mich darauf angesprochen, eine Frau kam zu mir und hat angefangen zu weinen. „Hey, was habt ihr da alles erlebt – und wir haben es euch nie angemerkt.“ Viele Mütter in der Musikschule, in der ich arbeite, haben sich anschließend mir gegenüber geöffnet. Wir haben auf einmal ganz andere Gespräche geführt.
Was macht Florian heute?
SE: Florian lebt in der Schweiz, in Zürich, und arbeitet dort als Risikomanager bei der Börse. Gerade ist er aber mit seiner Freundin auf einer halbjährigen Weltreise.
"Du fühlst dich schon manchmal ganz schön allein, wenn du nicht mehr in die Gesellschaft passt. Und du passt nicht mehr rein."
Das Buch ist per Mail an kontakt@sabine-eisenmann.de bestellbar